„Wenn es nichts wird, ist die Enttäuschung da“
Tabeas Tagebuch: Die Geschichte eines Kindes, dessen Eltern hoffen, dass ihr Mädchen eines Tages hören kann
Fulda, 1. Februar 2017, 10 Uhr. Ein Patientenzimmer im sechsten Stock des Klinikums Fulda. Neurochirurgie. Der Blick aus dem Fenster fällt auf die Stadt im hellen Licht eines klaren Februartages – mit dem Dom, dem Frauenberg und dem Petersberg, mit all den Kirchtürmen und Klöstern. Im Zimmer stehen ein Tisch, zwei Stühle und zwei Betten. Eines davon ist ein Kinderbett. Darin steht Tabea in einem rosafarbenen Schlafanzug mit einem rosafarbenen Hut auf dem Kopf. Sie ist dreieinhalb Jahre alt und für ihr Alter groß und kräftig. Im Bett nebenan schlafen abwechselnd ihre Eltern Michaela und Torsten Seidel. Sie sind zum zweiten Mal die 800 Kilometer von Rügen aus nach Fulda angereist. Ihre Tochter ist gehörlos. Im November 2016 erhielt sie ein Auditory Brainstam Implantat (ABI), das den Schalldruck in ein elektrisches Signal wandelt und dieses – über eine Leitung und Elektroden – unmittelbar zum Hörnerv am Stammhirn führt. Am 21. November 2017 wurde Tabea das Implantat vom Team um den Neurochirurgen Prof. Dr. Behr in Fulda eingesetzt. Nun wird das Gerät zum ersten Mal in Betrieb genommen und auf Tabea individuell eingestellt.
Ich besuchte die Eltern und ihre Tochter im Patientenzimmer. Es könnte der Beginn der Geschichte eines Kindes sein, das sein Gehör erlangt, – das Tagebuch über das Leben eines Kindes, das in eine Welt des Schalls eintritt, – eines Schalls, aus dem sich Worte und Zeichen formen, die unser Denken prägen und die unserem Denken und Fühlen Ausdruck verleihen. Es könnte eine Geschichte werden, – die vor allem auch anderen Eltern, die sich in einer ähnlichen Lage sehen, die Gewissheit gibt, mit ihrem gehörlosen Kind nicht allein zu sein auf der Welt. Es könnte eine solche Geschichte werden. Noch ist ungewiss, welchen Lauf sie nehmen wird.
Michaela und Torsten Seidel sind zum Gespräch bereit, und sie beginnen zu erzählen. Die Rollen unter den Eltern sind im stillen Einvernehmen verteilt. Die beiden ergänzen sich. „Erzähl Du mal“, sagt Torsten Seidel zu seiner Frau. Michaela Seidel spricht – sich gleichsam frei. Ihr Mann sagt weniger als sie, aber seine innere Anspannung scheint mindestens so stark zu sein wie die ihre.
Michaela Seidel beginnt. Die Schwangerschaft, berichtet sie, war unauffällig verlaufen bis zur 34. Woche. Aber dann kam Tabea-Maleen Seidel sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin am 1. Juli 2014 im Klinikum der Universität Greifswald zur Welt: 41 Zentimeter klein mit einem Gewicht von 1.730 Gramm. Beim Hörscreening in den ersten Tagen nach der Geburt reagierte sie nicht. „Uns wurde nahegelegt, es zu Hause auf Rügen nochmals abklären zu lassen“, sagt Tabeas Mutter. Sie ist Krankenschwester auf einer Intensivstation in Bergen auf Rügen. Vater Torsten ist ebenfalls Krankenpfleger.
Sechs Wochen nach der Geburt wurde der Hörtest bei Tabea in der Praxis eines niedergelassenen HNO-Arztes auf Rügen wiederholt. „Er hat gesagt, dass ganz dünn was ankommt bei Tabea. Er hat nicht gesagt, dass nichts ankommt“, erinnert sich Michaela Seidel an die Worte des Professors: „Es war schon ein Schlag. Denn wir waren voller Erwartung zum Professor gekommen.“ Für Torsten Seidel „war es das Hauptthema den ganzen Tag über“.
Tabea, sagt ihre Mutter, „hat lange nicht den Kopf gedreht, wenn neben ihr etwas zu hören war. Auch wenn unser Hund, der Happy Hannibal heißt, neben ihr bellte, hat sie nicht reagiert. Dann aber kommt man immer wieder in Situationen, da will man es sich schönreden. Verfolgt sie uns doch mit den Augen? Aber wenn wir ehrlich sind: Nur, wenn sie uns gesehen hat, hat sie uns auch mit den Augen verfolgt.“
Tabea muss zur Physiotherapie. Neun Monate nach der Geburt bekam sie eine Urosepis und eine neurogene Blasenstörung wird bei ihr diagnostiziert. Sie ist nicht in der Lage, ihre Blase selbst zu entleeren, und ihre Wirbelsäule ist nicht richtig entwickelt. „Man hat uns nahegelegt, dass Tabea nicht laufen wird, und man rechnet sich eins und eins zusammen“, sagt Michaela Seidel.
Mit Physiotherapie, Osteopathie, Ergotherapie und viel, viel Zeit haben die Eltern mit Tabea geübt, Bewegungsabläufe trainiert, Gegenstände durch das Zimmer gerollt, um das Kind zum Krabbeln zu animieren. „Und dann, eines Tages, mit eineinhalb Jahren, da hat sie sich gedreht“, sagt die Mutter, „sie fing an zu robben und dann zu krabbeln. Dann ist sie mit uns an beiden Händen gelaufen, wenn auch wacklig und unsicher, aber es zeigte uns, dass sie laufen wollte.“
2016 stellten die Eltern Tabea in einer Uniklinik den HNO-Ärzten vor. „Die haben uns bestätigt, dass Tabea wirklich komplett gehörlos ist“, sagt die Mutter: „Das war richtig heftig. Das hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Ärzte müssen die Wahrheit sagen, und die Wahrheit tut weh. Es bricht eine Welt zusammen.“
„Unsere Hoffnung war bis dahin noch da“, sagt Torsten Seidel. „Ja“, fährt Michaela Seidel fort, „wenn Tabea nur schwerhörig wäre, dann könnte ihr ein Hörgerät helfen. Nun realisierten wir zum ersten Mal: Wenn sie nicht hören kann, dann wird sie auch nicht sprechen können. Soweit waren wir vorher noch nicht. Das ist uns da erst vollständig bewusstgeworden. Im Sommer 2016 setzten wir dann große Hoffnung auf ein Cochlea Implantat (CI), das den Schalldruck in elektrische Signale verwandelt, die im Innenohr in der Hörschnecke aufgenommen werden. Man hat uns erklärt, dass das Zeit brauchen wird, wenn es funktioniert. Dass Tabea überhaupt erst hören lernen muss. Aber schon am Tag, als das Gerät für Tabea angepasst werden sollte, haben wir gemerkt, dass Tabea nicht reagiert. Auch sechs bis acht Wochen später hat sie nicht reagiert. Man hat wieder versucht, es sich schön zu reden. Aber sie hat nichts gehört. Doch eine Woche nach der Implantation ist Tabea aufgestanden und ist gelaufen, wenn auch wacklig. Das war der Hammer. Das kann man gar nicht beschreiben.“
„Ja, die Euphorie war sehr groß“, sagt Torsten Seidel. „Sie ging schnell stabil, kletterte hoch und hatte keine Berührungsängste“, beschreibt Michaela Seidel die Fortschritte der Tochter.
Im November 2016 wurde auf Empfehlung der Ärzte das zweite CI ins rechte Ohr implantiert. „Schon während der Anpassung des Gerätes war klar, dass Tabea überhaupt nichts gehört hat“, sagt Michaela Seidel: „Wir hatten zwar gehofft, aber das innere Gefühl hatte uns schon etwas Anderes gesagt. Dann hat Tabea dieses zweite Hörgerät überhaupt nicht akzeptiert und dann auch das erste nicht mehr.“
Torsten Seidel setzt ein: „Da waren wir beide an unserem Tiefpunkt angelangt. Wir waren ganz unten. Die Hoffnung war komplett weg. Wir spürten unsere Machtlosigkeit. Wir wussten nicht: Wie geht es weiter?“
Michaela Seidel: „Wir waren in dieser Zeit immer auf der Suche nach den Hörgeräten. Denn Tabea hat sie immer weggeworfen. Das war in unserer Ehe ein Punkt, an dem man aneinandergerät. Man weiß wirklich nicht mehr, wie es gehen soll. Tabea ging weiterhin in die Kinderkrippe. Auch die haben ganz intensiv mitgearbeitet und versucht, Tabea die Hörgeräte anzulegen, aber schließlich war das alles zu aufwändig. In meiner Verzweiflung suchte ich im Januar 2017 nochmals nach einem Gesprächstermin mit dem HNO-Arzt und dem Audiologen. Der HNO-Arzt sagte, wir müssten uns noch härter durchsetzen gegenüber Tabea, oder es gebe ein neurologisches Problem. Er sagte nicht Autismus, aber ich denke, er dachte es. Schließlich folgerte der Arzt aus unserem Gespräch, Tabea wolle die Hörgeräte nicht akzeptieren. Jedenfalls bin ich mit dieser Aussage im Kopf nach Hause gefahren. Ich weiß nicht wie. Tabea war dabei. Eigentlich war es verantwortungslos von mir, in dieser Verfassung zu fahren. Ich konnte und wollte es nicht akzeptieren, dass Tabea die Hörgeräte nicht wollte und akzeptierte.“
„Irgendetwas muss es doch geben“, dachte Torsten Seidel: „Immer wieder, Tag und Nacht, haben wir nach einer weiteren Möglichkeit gesucht, um Tabea zu helfen. Im Internet stießen wir dann auf das ABI, das Audio Brainstam Implantat, mit dessen Hilfe der Schalldruck in ein elektrisches Signal umgewandelt wird, das direkt in den Hörnerv am Stammhirn mündet.“
„Daraufhin“, sagt Michaela Seidel, „bin ich gezielt ins Internet und habe mich belesen“.
„Da kam unter den Suchergebnissen als erstes Professor Dr. Behr aus Fulda“, sagt Torsten Seidel. „Er hatte gute Erfolge weltweit – auch bei Kindern“, entdeckte Michaela Seidel: „So sind wir auf Prof. Dr. Behr und das Klinikum Fulda gekommen. Dann war es lange zwischen uns ein Gesprächsthema, wie wir mit der Entdeckung umgehen. Wir waren uns spontan einig, dass wir den Kontakt zu Prof. Dr. Behr suchen wollten. Aber wie? Kann man so einen Professor einfach anrufen?“
„Man hat doch Respekt vor der Person, wenn man gelesen hat, was Herr Professor Dr. Behr alles geleistet hat“, erklärt Torsten Seidel die Zurückhaltung.
„Vielleicht spürten wir auch Unsicherheit aus der Angst heraus, dass er Nein sagen könnte, weil dann wäre die letzte Hoffnung weg gewesen“, bedenkt Michaela Seidel: „Dann haben wir eine E-Mail verfasst, und über eine Woche immer wieder daran gefeilt in der Hoffnung, dass sich der Professor des Falls annehmen wird. Anfang Februar 2017 haben wir die Mail dann geschickt und gewartet. Wir haben lange gewartet und hatten 14 Tage keine Reaktion. Dann haben wir angerufen. ,Bei uns ist keine Mail angekommen’, lautete die Antwort. Aber dann schaute die Sekretärin in den Spam-Filter, fischte unsere Mail heraus und Professor Dr. Behr las sie. An einem Freitagabend Ende Februar 2017 rief Professor Dr. Behr bei uns an. Mein Mann war total aufgeregt. Aber Herr Prof. Dr. Behr war so nett. Wir waren so überrascht. Er wollte alle Befunde. Wir besorgten alles, und Prof. Dr. Behr meldete sich wieder bei uns. Es sehe alles recht gut aus, so dass wir uns als Eltern entscheiden könnten, Tabea in das Programm aufnehmen zu lassen. Wir haben in dem Moment gar nicht überlegt und eingewilligt. Dann hat es lange gedauert, bis wir wieder etwas aus Fulda gehört haben. Dafür hat Prof. Dr. Behr bei uns um Entschuldigung gebeten, aber die Ethikkommission habe sich die nötige Zeit für die Entscheidung genommen. Wir haben daraufhin den HNO-Arzt in der Uniklinik darüber informiert, was wir vorhatten. Die dortigen Ärzte hatten wohl mal von dem Verfahren gehört, aber sie hatten offenbar keine eigene Erfahrung damit. Wir hatten das Gefühl, wir wurden ein wenig belächelt: Wenn es so einfach funktionierte, dann würde es doch wohl jeder Gehörlose machen. Sie haben es nicht wörtlich, aber durch die Blume gesagt. Wir haben es jedenfalls so verstanden.“
Tabeas OP wurde auf den 21. November 2017 terminiert, und die Eltern reisten mit Tabea am 16. November zur Vorbereitung auf den Eingriff an. „Doch“, räumt Michaela Seidel ein, „dann haben wir uns schon Gedanken gemacht. Immerhin geht der Neurochirurg beim Eingriff ans Stammhirn. Wir kommen als Eltern beide aus der Medizin und wissen, was passieren kann. Wir geben Tabea hin, und es kann zu Komplikationen kommen – wie zu Lähmungen. Da sind auch Tränen geflossen in dieser Phase, man ist sehr angespannt. Man hat einfach Angst, dass etwas passieren kann.“
„Aber wem soll man dann vertrauen“, fragt Torsten Seidel, „wenn nicht Herrn Prof. Dr. Behr, dem Menschen selber? Allein die Fotografie von ihm, die wir bisher von ihm nur kannten, und das Gespräch mit ihm am Telefon. Das hatte uns beiden gereicht.“
„Diese Ruhe“, sagt Michaela Seidel, „die er ausgestrahlt hat, sein Verständnis für uns. Er sagte uns, dass er uns voll verstehen kann, dass wir unserem Kind diese eine Chance geben wollen.“
„Dann hatten wir am 16. November 2017 den ersten persönlichen Kontakt mit Prof. Dr. Behr, und wir waren noch bestärkter in unserer Entscheidung“, sagt Torsten Seidel.
„Wir haben einen Spruch“, erzählt Michaela Seidel: „Wir haben keine Erwartung an Professor Dr. Behr. Wir haben nur Hoffnung. Die Hoffnung auf eine kleine Chance auf ein relativ normales Leben für Tabea. Diese Hoffnung hat uns immer wieder bestärkt. Wir können sagen, wir haben für Tabea alles getan. Bis jetzt, wo wir hier sitzen. Wir haben nur die Hoffnung, und wir sind alle angespannt, weil wir schon zwei Mal enttäuscht wurden.“
Es ist 11:15 Uhr, als Michaela Seidel das sagt. Etwa gegen 14 Uhr soll Tabea unter Narkose der Prozessor angelegt werden. Das ABI wird dann sozusagen das erste Mal eingeschaltet, und es wird ein erstes Messergebnis geben, das darauf schließen lässt, ob Audiosignale in Tabeas Stammhirn ankommen werden. Es naht also der Moment, an dem sich zeigen wird: Gibt es eine berechtigte Hoffnung, dass Tabea zumindest Schall wahrnehmen wird.
„Einen ersten Test“, sagt Michaela Seidel, „gab es schon während der OP im November. Da sind schon Signale weitergeleitet worden“, aber nun hoffen die Eltern auf mehr Gewissheit. Das Warten steigert die Anspannung. Die Eltern denken ihre Gedanken, die sie schon so häufig dachten, in immer neuen Spiralen durch. Die Mutter nimmt den Faden wieder auf, antizipiert einen guten Ausgang des Eingriffs und zügelt sogleich wieder ihre Hoffnung. In allem liegt Sorge: „Tabea fängt ganz von vorne wieder an, wenn sie hören wird. Uns ist auch bewusst, dass ganz viel Arbeit ansteht, egal wie es ausgeht. Entweder machen wir weiter mit Gebärdensprache oder wir beginnen mit dem Sprechen. Wir wissen aber, es wird ganz viel Arbeit. Wir wissen, dass sie (Tabea) uns braucht, und dass sie ganz viel Unterstützung von uns bekommen wird. Es ist auch gut, dass alle an einem Strang ziehen. In der Kita hat Tabea eine 1 zu 1 Betreuung, und Tabea geht gerne in die Kita und hat sich dort gut entwickelt. Alle sind jetzt gespannt, wie es bei uns weitergeht. Auch die Kollegen im Krankenhaus auf der Intensivstation und alle Ärzte dort.“
„Wenn es nichts wird, ist die Enttäuschung da“, sagt Torsten Seidel: „Aber diese Enttäuschung, die soll Tabea nicht merken.“
Michaela Seidel fährt fort: „Wir haben uns auch damit abfinden müssen, dass es keine Hilfe gibt. Wenn es die Methode gar nicht gäbe. Oder wenn Prof. Dr. Behr Nein gesagt hätte. Alle wollen Tabea unterstützen.“
Woher sie, die Eltern, die Kraft zu alledem nehmen? Ein Schweigen setzt ein. Die Mutter bricht die Stille: „Wir bauen uns gegenseitig auf.“
Der Vater sagt: „Man weiß es selber gar nicht, wo man die Kraft hernimmt. Man funktioniert doch immer. Irgendwie.“
„Sie“, sagt die Mutter und meint Tabea, „gibt uns was zurück. Sie nimmt uns in den Arm. Trotz ihrer Gehörlosigkeit sagt sie Mama und Papa. Auch gezielt. Seit sie eineinhalb ist. Aua kann sie auch sagen und ,Ab’ im Sinne von ,los geht’s’. Wir konnten nie mit anderen Eltern sprechen, deren Kinder an derselben Krankheit leiden. Und alle wissen alles besser.“
Tabea sitzt in ihrem Bett und spielt mit dem Smartphone der Eltern. „Das ist ihre Verbindung zur Außenwelt. Tabea zeigte uns im Internet immer wieder ein Spielzeug. Das haben wir ihr geschenkt, als wir hier in Fulda ankamen. Früchte aus Holz, die zerlegbar sind, und deren Einzelteile mit Magneten zusammengehalten werden.“ Tabea fügt die Kiwi und die Banane zusammen, um sie mit einem hölzernen Messer wieder zu teilen. Sie spielt allein, ruht in sich, und bewegt sich – ob kletternd oder gehend – sicher.
Torsten Seidel denkt an die Zeit nach der OP zurück im November: „Das war schon schlimm nach der OP. Das aufgeschwollene Gesicht der Kleinen, der Schlauch in ihrem Hals. Da hat meine Frau zu mir gesagt: Los, komm! Reiß Dich zusammen! Sie schläft nur und hat keine Schmerzen.“
„Das kann man sich im Vorfeld nicht ausmalen, wie das wirklich ist“, sagt die Mutter: „Ja, man kann es sich zwar vorstellen, und von der Intensivstation her kenne ich vieles aus meinem Beruf. Aber dann ist es doch etwas Anderes.“ Michaela Seidel schweigt einen Moment und lenkt sich ab, in dem sie das Gespräch ins Professionelle und Sachliche führt: „Und die Betreuung auf der Kinderintensivstation im Klinikum ist bestens.“ „Ja, Hut ab“, stimmt Torsten Seidel ein.
Zwei Stunden sind es noch, bis der Prozessor angelegt werden wird.
Nachmittags, gegen 17 Uhr: Professor Dr. Behr sitzt in seinem Dienstzimmer. Besprechung mit dem OP-Manager. Wie es Tabea gehe? Ob der Versuch, das ABI in Betrieb zu nehmen, erfolgreich gewesen sei? Prof. Dr. Behr weiß es selbst noch nicht, denn er stand bis eben im OP und hat einem jungen Mann aus der Schweiz ein ABI implantiert, der sein Gehör durch eine gutartige Tumorerkrankung nach und nach verloren hatte.
Um 19:50 sendet mir Prof. Dr. Behr eine Nachricht: „Hallo, kurze Info, Tabea hat exzellente Stimulationsantworten gezeigt, also alles bestens. Mal sehen wie sie das Gerät akzeptiert. Mit freundlichen Grüßen RB“
2. Februar, 11:11 Uhr. Ein erster Versuch, Familie Seidel wie vereinbart telefonisch zu erreichen. Die Mailbox springt an. Dann eine Nachricht: „Hallo. Wir waren mit der Kleinen unterwegs. Unsere Abreise ist schon morgen. Gern können wir nochmals telefonieren. VG Familie Seidel.“
Schließlich, gegen 12 Uhr, ist doch ein Durchkommen. Michaela Seidel ist am Telefon. Ja, Tabea gehe es gut. Doch die Mutter ist weiterhin voller Anspannung. Jeden Moment kann es soweit sein, dass Tabea zum ersten Mal die Prozessoren im wachen Zustand angelegt werden. Dann wird es sich zeigen, ob sie den Kopf dreht, wenn sie ein Geräusch hört. Wir verabreden uns auf ein Telefonat am 4. Februar. Die Familie soll erst einmal zu Hause ankommen.
4. Februar 2017, 12 Uhr, ein Sonntag. Es schneit – auch auf Rügen. Michaela Seidel ist zum vereinbarten Termin sofort am Telefon, und sie wird berichten, was die Familie in den vergangenen Tagen erlebt hat.
Wie es der Familie gehe? „Uns geht es so sehr gut“, antwortet Tabeas Mutter. Die Anspannung ist noch nicht ganz von ihr gewichen, und sie beginnt sogleich von der Anpassung des Prozessors bei ihrer Tochter im Wachzustand am vergangenen Freitag, den 2. Februar, im Klinikum Fulda zu erzählen. „Tabea hatte geschlafen“, berichtet die Mutter, „das ist auch gut so, denn dann ist sie zugänglicher. Dann haben wir sie wachgemacht. So gegen halb Eins – Eins ist das gewesen. Wir waren alle beide angespannt, denn wir hatten ja noch das Anlegen der Prozessoren für die Cochlea Implantate in Erinnerung und trugen die Erwartung in uns, wieder enttäuscht zu werden. Aber das Gute an dem Ganzen war: Tabea hat das Gerät toleriert. Und wir haben den Prozessor versteckt unter ihrem rosafarbenen Hut, den sie immer trägt. Das war unser erstes Erfolgserlebnis. Nicht alles war auf Abwehr eingestellt bei Tabea. Wir waren erleichtert. Damit waren wir sehr erleichtert. Dann haben wir gewartet, wie Tabea reagiert auf Geräusche. Tatsächlich schaute sie nach oben und zur Seite, und sie fasste sich ans Ohr. Wir haben gesehen, auch in ihrem Gesichtsausdruck: Da ist was anders. Die Mitarbeiterin des Implantatentwicklers und –herstellers Med El, die das Gerät anpasste, erklärte uns, Tabea höre jetzt mehr dumpfe Geräusche. Auf Klatschen hat Tabea also erst mal noch gar nicht reagiert. Die Mitarbeiterin hat das Gerät so eingestellt, dass Tabea ganz behutsam an die ersten Geräusche herangeführt wird. Denn es gilt unbedingt, eine Schmerzreizung durch einen zu starken Hör-Impuls zu verhindern. Wir haben eine Fernbedienung für den Prozessor erhalten und ein Programm, nach dem wir nun die Lautstärke Woche für Woche etwas steigern.“
Einen Tag nach der Anpassung des Prozessors, am Samstag, den 3. Februar, fuhr Familie Seidel mit Tabea nach Hause. Um 9 Uhr verließen die drei Fulda und gegen 16:30 Uhr trafen sie zu Hause auf Rügen ein. „Auch während der Fahrt hat Tabea das Gerät getragen“, sagt die Mutter mit spürbarer Erleichterung: „Wir sind sehr gut zu Hause angekommen. Dann haben wir Tabea gebadet. Sie ist vollkommen k.o. zu Bett gegangen und schnell eingeschlafen. Dann haben auch wir uns hingesetzt und haben alles sacken lassen. Mit einer Flasche Sekt haben wir auf Tabea angestoßen und uns gewünscht, dass wir gemeinsam weiterkommen. Der Grundstein ist gelegt. Bis hierher haben wir es geschafft, und wir sind nicht unzufrieden. Tabea ist aufgeschlossen und plappert in einer Tour. Sie ist irgendwie verändert. Sie ist zugänglich. Wahrscheinlich merkt sie auch, dass wir als Eltern nun gelassener sind, denn unsere Anspannung hat sich gelegt. Vielleicht hat Tabea das gemerkt. Heute Morgen sind wir raus in den Schnee. Den liebt Tabea über alles. Morgen geht sie wieder in den Kindergarten. Tabea und ihre Betreuerin Barbara müssen lernen, mit dem Implantat umzugehen. Wir haben schon zum ersten Mal die Batterien gewechselt, und in den nächsten Tagen kommt ein stärkerer Magnet, damit das Gerät fester am Kopf sitzt.“
„Uns geht es gut, ganz ehrlich“, blickt die Mutter auf die vergangene Woche zurück: „Unsere Hoffnungen haben sich erfüllt, und wir hatten sie vorher runtergeschraubt. Wir merken aber: Tabea ist anders. Wir wissen zugleich, dass noch viel Arbeit auf uns zukommt.“
Fulda, 7. Februar. Die folgende Mail geht am 7. Februar im Sekretariat von Prof. Dr. Behr im Klinikum Fulda ein, und Frau Kuhlmei leitet sie weiter. Jeder, der die Zeilen liest, freut sich mit Familie Seidel.
Gesendet: Mittwoch, 7. Februar 2018 10:10 An: Sekretariat.Neurochir Betreff: Tabea-Maleen Seidel
Hallo Frau Kuhlmei!!! Auf diesem Weg möchten wir uns nochmal bei Ihnen Allen ganz, ganz herzlich bedanken, die uns so hilfreich unterstützt haben. Wir können unsere Erleichterung nicht in Worte fassen, was Hr. Prof. Behr und sein Team für unsere Tochter geleistet hat!!! Tabea trägt ganz fein ihr „LAUSCHI“(Prozessor) – so haben wir es getauft -sogar im Kindergarten!!!! Sie wirkt auf uns aufgeweckter und interessierter in ihren Wahrnehmungen. Von uns werden Sie jetzt in Abständen immer mal eine Information über die Entwicklung von Tabea erhalten. Auch die Zusammenarbeit mit Hr. Müller von der Grün erfolgt weiterhin – damit wir auch anderen Eltern Mut machen können, die das gleiche Schicksal teilen. Daran sind wir sehr interessiert.
Viele liebe Grüße auch an Professor Behr!
Familie Torsten und Michaela Seidel mit Tabea
Tabea kommt ins Plappern – immer klarer und intensiver
6. März, ein Telefonat. „Sehr, sehr gut. Es geht uns sehr, sehr gut“, beantwortet Michaela Seidel die Frage nach dem Wohlergehen der Familie. Vor allem weil schon für den 19. März die nächste Einstellung des ABI-Prozessors für Tabea geplant ist. Die Familie müsse mit dem Kind nur 1,5 Stunden nach Rostock fahren statt der 10 Stunden bis Fulda. „Der Implantathersteller Med EL kommt uns wirklich sehr entgegen“, sagt Michaela Seidel. Und obendrein ist die Ärztin in Rostock dieselbe, die auch im Gehörlosenzentrum in Güstrow die Kinder betreut. Dort sei Tabea schon in einer Reha gewesen, als sie ihr CI erhalten hatte. „Bisher pausieren wir, da es damals mit dem CI kein Erfolg war“, sagt die Mutter.
Michaela Seidel sagt, wie sie sich darüber freut, dass die Geschichte von Tabea aufgeschrieben und bald vom Klinikum Fulda publiziert werden wird, „denn wir haben uns als Eltern sehr hilflos gefühlt, als wir nicht wussten, woran Tabea leidet. Nun wollen wir mit unserem Wissen, unseren Erfahrungen anderen Eltern helfen.“ Michaela Seidel ist sogleich so unbeschwert und glücklich ins Erzählen gekommen, so dass es vermutlich mit Tabea keine Probleme zu geben scheint. Es braucht eine Frage, um der Mutter einen Stups zu geben, damit sie von ihrer Tochter erzählt. Aber mehr als ein Stichwort braucht es wirklich nicht: „Wir sind so positiv überrascht über die Fortschritte, die Tabea seit der ersten Einstellung des Prozessors in Fulda vor vier Wochen gemacht hat. Ja, wir sind in einem positiven Sinne sogar erschrocken. Denn Tabea hat in einem ganz intensiven Sinne den Blickkontakt zu uns aufgenommen. Denn wegen des fehlenden Blickkontakts war sie doch zuvor als Autist – ich sage – abgestempelt worden. Das ist jetzt so schön für uns!“
Ob Tabea hören könne? „Ich denke schon, dass sie irgendetwas wahrnimmt“, antwortet Michaela Seidel: „Wir merken es, wenn sie spielt, und es wird lauter. Neulich hat sie eine Schublade aufgezogen und wieder richtig zugeknallt. Da, nach dem Knall, da blieb sie stehen, schaute genau auf die Schublade und machte sie wieder auf und zu. Da muss sie doch etwas mitbekommen haben.“
Tabea trägt ihr Hörgerät. Jeden Tag. Die Eltern sind erleichtert, denn Tabeas Wut auf das CI ist unvergessen. „Sie weiß ganz genau, dass es zu ihr gehört“, sagt die Mutter: „Wenn Tabea das Gerät sieht, zeigt sie auf ihr Ohr. Dabei ist Tabea eher so ein Typ, der alles ablehnt. Aber dieses Hörgerät, das liebt sie. Professor Behr hatte uns schon seine Erfahrung mitgegeben: Wenn Kinder etwas mitbekommen, dann tragen sie das Hörgerät. Wir hätten nach den Erfahrungen mit dem CI nicht damit gerechnet. Mein Mann und ich sitzen oft da, und es kullern die Tränen. Wir merken, Tabea will weiterkommen, und sie ist immer unterwegs.“ In diesen ersten Frühlingstagen vor allem mit dem Schlitten, denn auf Rügen liegt Schnee. „Tabea nimmt wesentlich mehr wahr und schläft mittags nur noch selten. Wir sind glücklich, sehr glücklich. Man spürt die positive Veränderung“, sagt die Mutter.
Nach der Heimkehr aus Fulda von der ersten Inbetriebnahme des Prozessors Anfang Februar ging Tabea am Montag, den 5. Februar, gleich wieder in den Kindergarten, und vom nächsten Tag an nur noch mit Prozessor. „Wir haben dem Team im Kindergarten das Gerät erklärt, und es klappt super“, sagt Michaela Seidel. Tabea machte sogar beim Fasching mit, ging als Erdbeermädchen und tanzte mit den anderen.
Michaela Seidel hat sich notiert, was ihr aufgefallen ist im Zusammenhang mit dem „Lauschi“. Dass er sich zum Beispiel beim Spielen vom Kopf des Kindes lösen und am Heizkörper oder am Stahlrahmen eines Trampolins hängen bleiben kann. Dass Tabea sich fürsorglich um ihren Lauschi kümmert. Das Kind nimmt den Prozessor abends von sich aus ab und legt ihn in ein Gerät, das das Hörgerät trocken hält. Einmal hatte die Familie vergessen, den Prozessor abends abzunehmen, und Tabea brachte ihn – als sie es bemerkt hatte – mitten in der Nacht zu den Eltern.
Tabea, berichtet die Mutter, bleibe nun häufiger vor dem Spiegel stehen. Sie betrachte sich selbst und komme dann ins Plappern. Tabea habe früher schon Mama und Papa gesagt. Aber nun werde es „immer klarer und intensiver, und sie schaut uns dabei an. Ganz toll ist das. Ein ganz tolles Gefühl. Dann kullern wieder die Tränen.“
Nach der zweiten Prozessor-Einstellung am Monatsende, vereinbaren Michaela Seidel und ich, sprechen wir das nächste Mal miteinander.
7. März. Einen Tag nach dem Telefonat sendet Michaela Seidel noch eine Kurznachricht: „Heute waren wir bei der Kinder-Chirurgin, die Tabea von Anfang begleitet hat. Diese war erstaunt, welch positive Entwicklung Tabea gemacht hat.“