„Taubheit kann heilbar sein“
Warum das ABI ein gesichertes Verfahren mit Erfolgschancen ist
Internationaler Workshop zu 20 Jahren „Auditory Brainstem Implantat“ am Klinikum Fulda
Prof. Dr. Robert Behr, ein Pionier des Verfahrens, lädt die Fachwelt nach Fulda ein
Prof. Dr. Shannon, Los Angeles: „Viele Patienten und vor allem Kinder auf der ganzen Welt, die ohne Hörnerv geboren wurden, sind Prof. Dr. Behr mehr als dankbar“
Allein in Deutschland leben rechnerisch 2000 bis 3000 – vor allem junge – Menschen, die ertaubt sind oder noch ertauben werden, weil sie an einer Neurobibromatose Typ II erkrankt sind, die den Hörnerv zerstört. Jährlich kommen hierzulande mehr als 20 neue Patienten hinzu. Ihnen kann mit einem besonderen Implantat, einem Auditory Brainstem Implantat (ABI), geholfen werden, so dass sie wieder weitgehend an der Kommunikation teilnehmen können. Das hat der „ABI-Workshop: 20th Anniversary of the MED-EL ABI“ mit mehr als 100 Teilnehmern aus 24 Ländern in Fulda gezeigt. Dort sagte Professor Dr. Robert V. Shannon, von der University of Southern California, Los Angeles – einer der führenden Experten auf dem Gebiet – er habe niemals gedacht, dass die ABI-Technologie solche Akzeptanz finden würde und dass die Ergebnisse so beeindruckend sein würden. Sowohl mit dem ABI als auch mit dem Cochlea Implantat (CI) werden defekte Nervenstrukturen durch ein implantiertes elektrisches Leitungssystem ersetzt. Selbst Patienten im Säuglings- und Kleinkindalter erhalten schon Implantate, um ihre Taubheit zu überwinden und ihnen damit eine möglichst uneingeschränkte Entwicklung zu ermöglichen.
PD Dr. Menzel: „Kindern auf diesem Weg eine normale Entwicklung zu schenken, ist sensationell und mutig“
Gastgeber des wissenschaftlichen Kongresses war Prof. Dr. Robert Behr, ehemaliger Direktor der Neurochirurgie am Klinikum Fulda. Er war jener Neurochirurg, der vor zwanzig Jahren das erste ABI einer bestimmten Bauart auf der Welt implantierte, weil er schon damals große Erfahrung mit Operationen in dieser Hirnregion hatte. Seither hat Behr 120 solcher Implantate eingesetzt und gemeinsam mit dem Team aus Wissenschaftlern und Ingenieuren des Implantatherstellers MedEL, einem der wenigen Entwickler und Produzenten solcher Implantate weltweit, das Verfahren bis zur heutigen Reife gebracht. Darum auch fand der Kongress im Klinikum Fulda statt, das eines der größten Klinika in Hessen ist. „Kindern, die nichts hören können, auf diesem Weg eine normale Entwicklung schenken, das ist sensationell und mutig“, sagte PD Dr. med. Thomas Menzel, Vorstandssprecher der Klinikum Fulda gAG. Er erinnerte daran, dass sich Behr „gegen die ehemals herrschende Meinung der Autoritäten“ mit der Methode zum Wohle der Kinder durchgesetzt hat. Für Robert Shannon steht fest: „Der Erfolg von ABI zeigt, dass wir sicher und effektiv die Hörfunktion durch elektrische Stimulation wiederherstellen können. Viele Patienten und vor allem Kinder auf der ganzen Welt, die ohne Hörnerv geboren wurden, sind Prof. Dr. Behr in Fulda mehr als dankbar.“ Die Methode hat nach Auffassung der Fachleute längst das Stadium des Experimentellen überwunden und ist ausgereift, indes es auch bei der Behandlung der viel größeren Zahl von Cochlea-Erkrankungen durch CI immer größere Fortschritte gibt.
In den richtigen Händen ist das Einsetzen des ABI ein gesichertes Verfahren mit guter Erfolgschance
Behr möchte den Eltern Mut machen, ihren Kindern ein ABI einsetzen zu lassen, wenn die medizinische Indikation dafür gestellt ist. Es sei ein gesichertes Verfahren mit guter Erfolgschance, während sich die angewandte Technologie, die chirurgische Expertise und die Nachbetreuung der Patienten immer weiter verbessere.
Prof. Behr: „Wir haben abgewogen: Die Risiken sind immanent. Aber wir haben sie reduziert.“
„Unsere Ergebnisse bei Kindern stimmen hoffnungsfroh. Das Verfahren ist sicher. Ich verstehe die Angst der Eltern, denn als Neurochirurg eröffne ich für die Implantation den Schädel ihrer Kinder, ich arbeite am Stammhirn und Kleinhirn, hier laufen Hirnnerven und hier liegen Blutgefäße. Das sind Risiken, und der Umgang mit diesen hat uns sehr bewegt, als wir Ärzte diskutierten, ob wir solche Eingriffe an so kleinen Kindern überhaupt vornehmen dürfen, oder ob wir sie vornehmen müssen, wenn wir den Kindern die Chance auf eine gute Entwicklung geben möchten. Wir haben abgewogen, und es uns dabei nicht leichtgemacht. Ja, es bleibt dabei: Die Risiken sind immanent. Aber in der unterdessen langjährigen Praxis haben wir gezeigt, dass wir die Risiken reduzieren können, und dass die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts sehr gering ist. In meiner Gruppe von 34 Kindern, denen ich bisher ein ABI eingesetzt habe, sind keine ernsten Probleme aufgetreten. In fünf bis zehn Prozent der Fälle kommt es zu einer Nervenwasserfistel als Folge der Durchdringung der harten Hirnhaut. Aber solch eine Situation ist nicht lebensbedrohlich und behandelbar. Und auch diesem kleinen Risiko steht die große Chance gegenüber, dass das Kind wird hören und sprechen können. Es erhält die Chance, sich wie andere Kinder auch zu entwickeln.“
Der jüngste Patient war 15 Monate alt
Die Empfehlung der Ärzte laute heute, mit dem Einsetzen eines ABI zu warten, bis die Kinder vor der Vollendung des zweiten Lebensjahres stehen, erläuterte Behr. Die Kinder unter dieser Altersschwelle seien sehr klein, auch ihr Gehirn wachse noch, und aus Sicht der Anästhesisten seien die kleinen Patienten problematisch. Doch sein jüngster Patient mit einem solchen Eingriff sei 15 Monate alt gewesen, und alles sei gelungen. „Die Eltern dieses Kindes denken heute nicht mehr an die Risiken. Vermutlich machten sie sich Vorwürfe, wenn sie dem Eingriff nicht zugestimmt hätten“, sagte Behr.
Behr hat von 2009 bis 2017 insgesamt 34 Kindern auf der ganzen Welt – von Japan, Hongkong und Singapur über Indien und Russland bis nach Polen, England, Schweden, Spanien und freilich Deutschland – ABIs eingesetzt. Im Februar 2018 wird er nach Neuseeland fliegen, um dort fünf weitere Kinder zu operieren.
Prof. Behrs Implantations-Ergebnisse zählen zu den besten der Welt
Die 34 Kinder waren zwischen einem Jahr und sechs Jahre alt. Im Durchschnitt betrug ihr Alter bei der Operation etwa 3 Jahre. Auf der CAP-Skala (Category of Auditory Performance), mit der international die Hörfähigkeit gemessen wird, erreichten 89 Prozent dieser jungen Patienten in der Nachuntersuchung nach der Implantation mindestens den Grad CAP 4 von 7 oder mehr. Das heißt: Sie verstanden zumindest einzelne Worte. 48 Prozent der Kinder erreichten sogar den CAP Grad 5 oder besser. Sie verstanden ganze Sätze und hatten ein offenes Sprachverständnis. „Diese Ergebnisse zählen zu den besten weltweit“, sagte der Neurochirurg.
„Hören ist für die Orientierung in der Welt und für die kognitive Entwicklung eines Menschen essentiell“, sagte Behr: „Darum werden Kinder schon wenige Stunden nach der Geburt einem Hörscreening unterzogen. Kommt es dort zu Auffälligkeiten, werden die Kinder weiter beobachtet. Darum werden Taubheit oder Schwerhörigkeit heute sehr früh entdeckt. Und das ist auch sehr wichtig, denn wir müssen die Hörbahn – also die Nerven vom Innenohr bis zum Stammhirn – früh aktivieren, sonst schläft sie gleichsam ein, denn ohne Reize kann sie sich nicht entwickeln.“
Bei kleinen Kindern, und Behr spricht hier durchaus auch von Säuglingen, falle die Diagnose, wo der Defekt verortet sei, schwer, denn die Kinder könnten sich nicht artikulieren, ihre Organe seien winzig klein und die bildgebenden Verfahren „stoßen dann schon Mal an Grenzen“, wenn es darum gehe, eine Cochlea-Störung oder „starke Hinweise auf die Indikation für ein ABI festzustellen“, sagte der Neurochirurg. Und er verstehe die Angst der Eltern, ihren Säugling oder ihr Kleinkind einem Eingriff am Kopf auszusetzen.
Wenn „die anatomische Situation nicht ganz eindeutig“ sei, werde den Kindern häufig zunächst ein Cochlea-Implantate (CI) eingesetzt, denn der Eingriff sei nicht so weitgehend wie beim Einsetzen eines ABI. Doch der Erfolg sei nicht immer garantiert. Behr spricht insofern vom „CI-Versuch“. Bei 60 Prozent seiner Patienten, sagte Behr, habe das zuvor eingesetzte CI nicht funktioniert. Wenn dieser Versuch aber gescheitert sei, seien die Eltern häufig niedergeschlagen und mutlos: „Mit meiner Arbeit und der Publikation unserer Erfolge möchte ich den Eltern helfen, neuen Mut zu schöpfen.“
Von Claus Peter Müller v. d. Grün
Diese Zeilen erreichten Prof. Dr. Robert Behr nach dem Kongress in Fulda:
„It is appropriate that the meeting was held in Fulda“
Robert, Congratulations on a highly successful Auditory Brainstem Implant meeting in Fulda. Over the 20 years of the MedEl ABI we have seen many significant improvements in patient outcomes, many due to your innovations in surgery. Given your importance in the improvement of the ABI over the last 20 years it is appropriate that the meeting was held in Fulda. I am honored and proud to be included in the invited speakers at the meeting. I was impressed at the international representation – surgical teams from India, Africa, South America, China – which shows the growth of the ABI around the world. I never thought that the ABI would gain such acceptance and that the results would be so impressive. The success of the ABI shows that we can safely and effectively restore functional hearing by electrically stimulating the brainstem directly. Many NF2 patients and children born without an auditory nerve owe you thanks and appreciation. Congratulations again on a successful and enjoyable meeting
Robert V. Shannon, PhD
Adjunct Professor of Otolaryngology
Caruso Department of Otolaryngology, Head and Neck Surgery
University of Southern California