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„Es ist schon eine harte Geschichte“

Eine Reportage von Claus Müller von der Grün

Johanna Meiser berichtet vom Alltag mit ihrer Erkrankung an Neurofibromatose Typ 2 (NF2), von ihrem „Glück“, auf Professor Dr. Behr getroffen zu sein, und vom Gewinn an Lebensqualität durch das Auditory Brainstem Implantat (ABI)

Fulda /Ratingen, im Sommer 2018. Professor Dr. Robert Behr und ich überlegen, wie wir Menschen, die an einer Hörbehinderung leiden, zu mehr Gehör in der Öffentlichkeit verhelfen können. Prof. Dr. Behr vermittelt den Kontakt zu Patienten, die an NF 2 leiden, und die bereit sind, über ihre Erfahrungen mit dem ABI zu sprechen. Johanna Meiser aus Ratingen bei Düsseldorf ist die erste, die ich anschreibe. Ich sende einige Fragen mit, um ihr Sicherheit zu geben, worüber wir uns beim Kennenlernen austauschen könnten. Frau Meiser antwortet sogleich, bedankt sich für die Fragen, die sie mit ihrem Mann Jörg beantworten wird, und vereinbart einen Telefontermin mit mir, den ihr Mann wahrnehmen wird. Frau Meiser kann hören, wenn auch eingeschränkt, und sie kann sehr viel verstehen – selbst in verschiedenen Sprachen –, wenn das Gegenüber Geduld hat, langsam spricht und beim Sprechen ein klares Lippenbild zeigt. Aber ein Telefonat kann sie nicht führen. Wir verabreden uns zu einem ersten Treffen am 7. Juli 2018 in Ratingen, und Familie Meiser empfängt uns zu Hause an einem einladend gedeckten Frühstückstisch. Nisha, die acht Jahre alte Boxerhündin der Familie, ist mit Johanna Meisers Vater spazieren. Die Hündin ist ein unverzichtbarer Partner für Johanna Meiser im Alltag, und sie wird im folgenden Gespräch immer wieder von Nisha erzählen.

Indes ist meine Frau mitgekommen zu Meisers, und als wir einige Stunden später abreisen, wird sie zu mir sagen: „Es ist doch gut gewesen, dass ich mitgekommen bin.“ Denn meine Frau hat häufig Umgang mit Menschen – auch aus anderen Kulturen, die kein oder kaum Deutsch sprechen -, die nicht oder nur schwer hören und als Patienten einer Intensivstation in einer besonderen Lage sind. Meine Frau spricht langsam, zeigt ein klares Lippenbild und liest ihrerseits dem Gegenüber vom Mund ab. Sie hat Geduld, und der andere schöpft Vertrauen. Ich hingegen, wird sie mir sagen, hätte noch viel zu lernen und den Dialog mit Menschen mit Hörbehinderung zu trainieren.

Aufregung erschwert die Kommunikation

Wir nehmen am Tisch Platz und kommen ins Gespräch. Es ist Jörg Meiser, der immer wieder auf Bitten seiner Frau vermittelt. Denn Johanna Meiser ist aufgeregt. Das erschwert die Kommunikation. Neben der Hörbehinderung durch NF2 ist eine weitere Einschränkung hinzugekommen. Johanna Meiser ist in einer anstrengenden Phase der Medikamenteneinstellung. Seit einem Jahr leidet sie an epileptischen Anfällen. Auch das ist eine Folge ihres Tumorleidens NF2. Die Medikamente ermüden sie. Sie möchte alles verstehen und richtig antworten. Doch ich bin offenbar schwer zu verstehen. Aber irgendwie kommt die Unterhaltung in Gang und die Anspannung weicht mehr und mehr.

Ein junges Paar mit Plänen und Chancen

Johanna Meiser wurde 1968 geboren, wuchs im östlichen Ruhrgebiet am Rand zum Sauerland auf, legte 1989 ihre Abiturprüfung ab und schloss 1993 ihre Ausbildung als Orthopädiemechanikerin und Bandagistin ab. Sie war die Drittbeste im Landeswettbewerb NRW der Handwerksjugend 1993, und sie dachte schon bei ihrer Gesellenprüfung an die eigene Meisterprüfung. Sie konnte sich aber auch vorstellen, Berufsschullehrerin zu werden. Ihr Mann Jörg ist Diplom-Wirtschaftsingenieur. Das Studium der Elektrotechnik ergänzte er mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Qualifikation für das Versicherungswesen. Bei einem Energieversorger ist er nun Spezialist für die Versicherung von Großkraftwerken. Die beiden heirateten 1994 standesamtlich und am 5. Mai 1995 kirchlich: Ein junges Paar, das alle Voraussetzungen für beruflichen Erfolg hatte, und eine eigene Familie gründen wollte.

Nach der Hochzeit traten die Symptome auf

Dann, im Jahr der kirchlichen Hochzeit, stellten sich bei Johanna Meiser im Alter von 27 Jahren die ersten Symptome ein. Beruflich war es für Johanna Meiser das Ende der Karriere. Johanna Meiser erinnert sich: „Nach dem Aufwachen konnte ich den Kopf nicht runternehmen, es war zunächst nicht schmerzhaft. Beim Joggen stieß ich an meinen Mann. Das war der schwindende Gleichgewichtssinn. Aber daran dachte ich doch nicht. Nachts litt ich an Schwindel, und ich dachte, es sei der Kreislauf. Am Ende des Jahres konnte ich den ganzen Tag nur noch mit Schmerztabletten leben“, berichtet Johanna Meiser. Der Hörnerv war offenbar für die Patientin noch nicht spürbar von einem Tumor befallen. Jörg Meiser erinnert sich an die vergebliche Suche nach Rat und Aufklärung: „Die Ärzte haben uns nicht für voll genommen.“ Ein Arzt sagte Johanna Meiser: „Einen gelben Schein gibt es dafür nicht! Weil alle Ärzte nichts finden konnten, dachten sie, ich sei nicht klar im Kopf.“

Erst nach einem Jahr voller Schmerzen kam die Diagnose

Endlich nahm ein Arzt in Schwerte Ende 1996 die Fährte auf. Er äußerte den Verdacht, dass es sich um MS handeln könnte und vereinbarte einen Termin zur Kernspintomographie in einer Dortmunder Radiologie. „Man kann als Laie ein Bild aus dem Kernspin nicht deuten. Aber in unserem Fall waren die Tumoren so klar zu sehen“, sagt Jörg Meiser. Im Kopf schob ein Tumor schon den Hirnstamm zur Seite, und die Tumoren an der Wirbelsäule erklärten die starken Schmerzen.

„Ich war nie auf Hilfe angewiesen. Ich will alles selber machen.“

Johanna Meiser kann sich an die Übermittlung des Befundes noch erinnern und hält sich beim Erzählen die Hände vor Augen: „Meine Schmerzen waren weg durch den Schock in diesem Moment. So unverblümt, so unsensibel hat der Arzt es gesagt. Und weil es wohl etwas Besonderes war, hat er noch Kollegen hinzugerufen, um es ihnen an meinem Beispiel zu erklären. Ich habe zunächst noch gedacht, man könnte es mit Tabletten behandeln. Dann kam ein neuer Schock. Ich sollte operiert werden. Nun ja, dachte ich, wenn es mit zwei Operationen erledigt sein wird, dann soll es vorbei sein. Dann wurde ich wieder und wieder und wieder operiert. Ich habe zehn Kilogramm abgenommen, und mittlerweile waren es neun Operationen im Zusammenhang mit der NF2. Bei der ersten Operation im Mai 1996 wurden auf der linken Seite mein Hör- und mein Gesichtsnerv beschädigt. Es ist bis heute so: Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nur meine Haare, nicht die Lähmung meiner Gesichtshälfte. Ich bin eine Meisterin der Verdrängung. Eine Krankenschwester sagte mir einmal, ich sei ein Stehaufmännchen. Ich bin ein Schlüsselkind. Ich war von Kindesbeinen an nie auf Hilfe angewiesen. Ich will alles, was möglich ist, selber machen, solange ich mich nicht selbst gefährde. Mit meinem Mann habe ich eine Abmachung: Wenn ich Hilfe brauche, dann sage ich es.“

Die Begegnung mit Prof. Dr. Behr: „Zum Glück haben wir ihn getroffen“

1999 stand eine weitere Operation an. Es war klar, dass nun auch auf der rechten Seite der Hörnerv nicht zu erhalten sein und der Gleichgewichtssinn verloren sein würde. Familie Meiser suchte – auch im Internet, das damals noch nicht die Fülle an Informationen bot wie heute – nach Möglichkeiten, die drohende Taubheit auszugleichen. Sie erfuhr vom ABI und davon, dass sich Ärzte in Würzburg, Hannover und Köln damit befassten. Geographisch war in Köln die naheliegende Klinik, und dort war damals Prof. Dr. Behr. „Zum Glück haben wir ihn getroffen, und er hat uns das ABI erklärt. „Er sagte uns, der Tumor, der weiter gewachsen war, muss raus, und dass er im Zweifel den Gesichtsnerv erhalten wolle. Es sei aber zu erwarten, dass der Hörnerv durchtrennt werde“, erinnert sich Johanna Meiser. Ein ABI wurde unmittelbar mit der Entfernung des Tumors implantiert und sechs Wochen später aktiviert.

Sechs Wochen ohne Gehör: „Das ist ziemlich schrecklich“

„Ich lebte sechs Wochen, ohne irgend etwas zu hören. Das ist ziemlich schrecklich“, sagt Johanna Meiser: „Beim Einstellen des ABI gab es Probleme. Es war anstrengend. Es ging von morgens bis abends um 18 Uhr, und es war anstrengend wie eine Klausur. Es wurden mir verschiedene Töne vorgespielt, mal leiser und lauter, mal hoch und tief. Es löste ein Kribbeln aus. Dann haben die Menschen gesprochen. Ihre Stimmen haben sich alle ähnlich angehört. Roboterähnlich. Oder gepresst wie die Stimme von Donald Duck. Nur die Stimmen, die ich kannte, klangen anders. Sie waren dumpf und leise, aber sie klangen nicht wie aus dem Computer oder wie von einer Comicente, sondern so wie früher.“

Johanna Meiser wechselte als Patientin ans Klinikum Fulda

Johanna Meiser wechselte als neurochirurgische Patientin mit Prof. Dr. Behr von Köln nach Fulda. Prof. Dr. Behr nehme sich Zeit, sagt Jörg Meiser, bleibe noch eine Weile sitzen, selbst wenn keine Frage mehr komme. Denn er warte, ob noch eine Frage komme. Sie fahre von Ratingen nach Fulda, „weil man sich da gut aufgehoben fühlt“, sagt Johanna Meiser: „Die sind alle freundlich dort, auch auf der Station.“

„Das Gehör ist wirklich wieder da“

„Das Gehör ist wirklich wieder da, mit allen Schwierigkeiten“, sagt Jörg Meiser.

„Und es wird besser. Es ist ein Training“, sagt Johanna Meiser.

„Wenn ich auf einer längeren Dienstreise bin, und meine Frau mehrere Tage allein ist, dann fehlt das Training“, sagt Jörg Meiser: „Wir beide, meine Frau und ich, konnten uns immer normal unterhalten. Aber schwierig ist es, wenn die Gesprächspartner über Kreuz sitzen, wenn das Lippenbild fehlt. Auf Feiern geht man selten und wenn, dann geht man wieder früh. Denn da sitzt man rum, weil das ABI dort, wo viele Stimmen durcheinander schwirren, an seine Grenzen stößt.“

„Viele Leute“, sagt Johanna Meiser, „haben sich anfangs noch gemeldet, als ich krank wurde. Aber dann waren sie weg. Neue Freunde zu finden? Nein, das ist schwierig. Es ist schwer, mit Menschen in Kontakt zu kommen, wenn man nichts hört.“

Neulich im Krankenhaus in Fulda habe sie eine Zimmernachbarin aus Afghanistan gehabt. Die habe wegen der Sprachbarriere ohnehin mit Händen und Füßen geredet: „Ja, das war schön!“

Neue Freunde zu finden ist schwer

Neue Freunde zu finden, greift Jörg Meiser das Gespräch auf, sei schwer in einem bestimmten Alter. Es sei schon schwer, die alten Freunde zu halten, wenn man nicht telefonieren könne. Aber jüngst habe Carmen, eine alte Freundin, eine Sprachnachricht an Johanna gesandt. Diese hat Johanna Meiser zwar nicht verstehen können, aber es hat ihr gezeigt, dass Carmen ganz natürlich mit der Krankheit ihrer Freundin umgeht. Das tat gut.

Auch Nisha, die Boxerhündin, tut gut. Sie ist vom Spaziergang zurück und begrüßt alle freundlich, bevor sie sich erschöpft zu Boden legt.

Wenn Johanna Meiser ein Geräusch hört, und Nisha zur Türe geht, dann weiß sie, dass jemand an der Tür geschellt hat. Bleibt Nisha liegen, ist vermutlich etwas zu Boden gefallen, ein Fenster schlug im Wind oder ein Telefon läutete.

Nisha ist immer dabei und stets fürsorglich. Nisha schafft soziale Kontakte, denn Menschen, die mit ihren Hunden Gassi gehen, kommen ins Gespräch. Auch bei Wind und Wetter. „Früher“, sagt Johanna Meiser, „konnte ich mit Nisha in den Wald gehen. Aber jetzt, nach den epileptischen Anfällen, ist meine Kraft weg, und ich habe Schwindel. Ich stehe um 7 Uhr 30 auf, und es ist gut, das Nisha morgens nicht dringend raus muss. Dann kann ich erst einmal meinen Kaffee trinken, bevor wir die erste Runde drehen. Dann lese ich viele Bücher.“

Johanna Meiser hat ihre Aufregung überwunden. Sie spricht nun vollkommen flüssig, bittet ihren Mann nur noch selten zu dolmetschen. Zu meiner Frau sagt sie: „Sie verstehe ich gut, Ihren Mann nicht.“

„Wichtig ist das Lippenlesen. Ich übe es richtig.“

Johanna Meiser resümiert: „Es ist schon eine harte Geschichte. Oft gibt es nur zwei Operationen bei dieser Krankheit. Ich hatte schon neun, alle im Zusammenhang mit der NF2. Es muss nicht bei jedem so schlimm werden wie bei mir. Und wenn es heute jemanden trifft, dann sind die Diagnostik, die OP-Techniken und die Mikrochirurgie besser. Ich kann einkaufen und zum Bäcker gehen. Alles ist eigentlich problemlos möglich. Wenn ich Geräusche höre, die ich nicht einordnen kann, dann suche ich. Ist es ein Feueralarm, ein nicht ausgeschalteter Wecker? Wenn jemand von hinten spricht, verstehe ich ihn nicht, aber ich drehe mich zu ihm um. Ich verstehe viele Leute sehr gut, andere weniger. Ich frage dann immer nach. Jeder Mensch hat ein anderes Lippenbild. Es ist schwer für mich, Englisch zu verstehen, aber es geht. Ich hatte Englisch bis zur zehnten Klasse. Von meinem Französisch und Spanisch ist nichts geblieben aus der Schulzeit. Aber Polnisch. Das geht richtig gut. Und Russisch, soweit es dem Polnischen ähnlich ist. Wichtig ist das Lippenlesen. Ich übe es richtig.“ An meine Frau gewandt sagt Johanna Meiser: „Und wenn ich mit Ihrem Mann zwei Tage zusammen wäre, dann würde ich ihn auch verstehen.“

Wir verabreden uns, das Gespräch per E-Mail fortzusetzen.

 

 

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