Taubheit kann heilbar sein – Internationaler Workshop zu 20 Jahren „Auditory Brainstam Implantat“ am Klinikum Fulda / Prof. Dr. Robert Behr, ein Pionier des Verfahrens, lädt die Fachwelt nach Fulda ein
Prof. Dr. Shannon, Los Angeles: „Viele Patienten und vor allem Kinder auf der ganzen Welt, die ohne Hörnerv geboren wurden, sind Prof. Dr. Behr mehr als dankbar“
FULDA. Allein in Deutschland leben rechnerisch 2000 bis 3000 – vor allem junge – Menschen, die ertaubt sind oder noch ertauben werden, weil sie an einer Neurobibromatose Typ II erkrankt sind, die den Hörnerv zerstört. Jährlich kommen hierzulande mehr als 20 neue Patienten hinzu. Ihnen kann mit einem besonderen Implantat, einem Auditory Brainstam Implantat (ABI), geholfen werden, so dass sie wieder weitgehend an der Kommunikation teilnehmen können. Das hat der „ABI-Workshop: 20th Anniversary of the MED-EL ABI“ mit mehr als 100 Teilnehmern aus 24 Ländern in Fulda gezeigt. Dort sagte Professor Dr. Robert V. Shannon, von der University of Southern California, Los Angeles – einer der führenden Experten auf dem Gebiet – er habe niemals gedacht, dass die ABI-Technologie solche Akzeptanz finden würde und dass die Ergebnisse so beeindruckend sein würden. Sowohl mit dem ABI als auch mit dem Cochlea Implantat (CI) werden defekte Nervenstrukturen durch ein implantiertes elektrisches Leitungssystem ersetzt. Selbst Patienten im Säuglings- und Kleinkindalter erhalten schon Implantate, um ihre Taubheit zu überwinden und ihnen damit eine möglichst uneingeschränkte Entwicklung zu ermöglichen.
PD Dr. Menzel: „Kindern auf diesem Weg eine normale Entwicklung zu schenken, ist sensationell und mutig“
Gastgeber des wissenschaftlichen Kongresses war Prof. Dr. Robert Behr, Direktor der Neurochirurgie am Klinikum Fulda. Er war jener Neurochirurg, der vor zwanzig Jahren das erste ABI einer bestimmten Bauart auf der Welt implantierte, weil er schon damals große Erfahrung mit Operationen in dieser Hirnregion hatte. Seither hat Behr 120 solcher Implantate eingesetzt und gemeinsam mit dem Team aus Wissenschaftlern und Ingenieuren des Implantatherstellers MedEL, einem der wenigen Entwickler und Produzenten solcher Implantate weltweit, das Verfahren bis zur heutigen Reife gebracht. Darum auch fand der Kongress im Klinikum Fulda statt, das eines der größten Klinika in Hessen ist. „Kindern, die nichts hören können, auf diesem Weg eine normale Entwicklung schenken, das ist sensationell und mutig“, sagte PD Dr. med. Thomas Menzel, Vorstandssprecher der Klinikum Fulda gAG. Er erinnerte daran, dass sich Behr „gegen die ehemals herrschende Meinung der Autoritäten“ mit der Methode zum Wohle der Kinder durchgesetzt hat. Für Robert Shannon steht fest: „Der Erfolg von ABI zeigt, dass wir sicher und effektiv die Hörfunktion durch elektrische Stimulation wiederherstellen können. Viele Patienten und vor allem Kinder auf der ganzen Welt, die ohne Hörnerv geboren wurden, sind Prof. Dr. Behr in Fulda mehr als dankbar.“ Die Methode hat nach Auffassung der Fachleute längst das Stadium des Experimentellen überwunden und ist ausgereift, indes es auch bei der Behandlung der viel größeren Zahl von Cochlea-Erkrankungen durch CI immer größere Fortschritte gibt.
In den richtigen Händen ist das Einsetzen des ABI ein gesichertes Verfahren mit guter Erfolgschance
Behr möchte den Eltern Mut machen, ihren Kindern ein ABI einsetzen zu lassen, wenn die medizinische Indikation dafür gestellt ist. Es sei ein gesichertes Verfahren mit guter Erfolgschance, während sich die angewandte Technologie, die chirurgische Expertise und die Nachbetreuung der Patienten immer weiter verbessere.
Behr: „Wir haben abgewogen: Die Risiken sind immanent. Aber wir haben sie reduziert.“
„Unsere Ergebnisse bei Kindern stimmen hoffnungsfroh. Das Verfahren ist sicher. Ich verstehe die Angst der Eltern, denn als Neurochirurg eröffne ich für die Implantation den Schädel ihrer Kinder, ich arbeite am Stammhirn und Kleinhirn, hier laufen Hirnnerven und hier liegen Blutgefäße. Das sind Risiken, und der Umgang mit diesen hat uns sehr bewegt, als wir Ärzte diskutierten, ob wir solche Eingriffe an so kleinen Kindern überhaupt vornehmen dürfen, oder ob wir sie vornehmen müssen, wenn wir den Kindern die Chance auf eine gute Entwicklung geben möchten. Wir haben abgewogen, und es uns dabei nicht leichtgemacht. Ja, es bleibt dabei: Die Risiken sind immanent. Aber in der unterdessen langjährigen Praxis haben wir gezeigt, dass wir die Risiken reduzieren können, und dass die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts sehr gering ist. In meiner Gruppe von 34 Kindern, denen ich bisher ein ABI eingesetzt habe, sind keine ernsten Probleme aufgetreten. In fünf bis zehn Prozent der Fälle kommt es zu einer Nervenwasserfistel als Folge der Durchdringung der harten Hirnhaut. Aber solch eine Situation ist nicht lebensbedrohlich und behandelbar. Und auch diesem kleinen Risiko steht die große Chance gegenüber, dass das Kind wird hören und sprechen können. Es erhält die Chance, sich wie andere Kinder auch zu entwickeln.“
Der jüngste Patient war 15 Monate alt
Die Empfehlung der Ärzte laute heute, mit dem Einsetzen eines ABI zu warten, bis die Kinder vor der Vollendung des zweiten Lebensjahres stehen, erläuterte Behr. Die Kinder unter dieser Altersschwelle seien sehr klein, auch ihr Gehirn wachse noch, und aus Sicht der Anästhesisten seien die kleinen Patienten problematisch. Doch sein jüngster Patient mit einem solchen Eingriff sei 15 Monate alt gewesen, und alles sei gelungen. „Die Eltern dieses Kindes denken heute nicht mehr an die Risiken. Vermutlich machten sie sich Vorwürfe, wenn sie dem Eingriff nicht zugestimmt hätten“, sagte Behr.
Behr hat von 2009 bis 2017 insgesamt 34 Kindern auf der ganzen Welt – von Japan, Hongkong und Singapur über Indien und Russland bis nach Polen, England, Schweden, Spanien und freilich Deutschland – ABIs eingesetzt. Im Februar 2018 wird er nach Neuseeland fliegen, um dort fünf weitere Kinder zu operieren.
Behrs Implantations-Ergebnisse zählen zu den besten der Welt
Die 34 Kinder waren zwischen einem Jahr und sechs Jahre alt. Im Durchschnitt betrug ihr Alter bei der Operation etwa 3 Jahre. Auf der CAP-Skala (Category of Auditory Performance), mit der international die Hörfähigkeit gemessen wird, erreichten 89 Prozent dieser jungen Patienten in der Nachuntersuchung nach der Implantation mindestens den Grad CAP 4 von 7 oder mehr. Das heißt: Sie verstanden zumindest einzelne Worte. 48 Prozent der Kinder erreichten sogar den CAP Grad 5 oder besser. Sie verstanden ganze Sätze und hatten ein offenes Sprachverständnis. „Diese Ergebnisse zählen zu den besten weltweit“, sagte der Neurochirurg.
„Hören ist für die Orientierung in der Welt und für die kognitive Entwicklung eines Menschen essentiell“, sagte Behr: „Darum werden Kinder schon wenige Stunden nach der Geburt einem Hörscreening unterzogen. Kommt es dort zu Auffälligkeiten, werden die Kinder weiter beobachtet. Darum werden Taubheit oder Schwerhörigkeit heute sehr früh entdeckt. Und das ist auch sehr wichtig, denn wir müssen die Hörbahn – also die Nerven vom Innenohr bis zum Stammhirn – früh aktivieren, sonst schläft sie gleichsam ein, denn ohne Reize kann sie sich nicht entwickeln.“
Bei kleinen Kindern, und Behr spricht hier durchaus auch von Säuglingen, falle die Diagnose, wo der Defekt verortet sei, schwer, denn die Kinder könnten sich nicht artikulieren, ihre Organe seien winzig klein und die bildgebenden Verfahren „stoßen dann schon Mal an Grenzen“, wenn es darum gehe, eine Cochlea-Störung oder „starke Hinweise auf die Indikation für ein ABI festzustellen“, sagte der Neurochirurg. Und er verstehe die Angst der Eltern, ihren Säugling oder ihr Kleinkind einem Eingriff am Kopf auszusetzen.
Wenn „die anatomische Situation nicht ganz eindeutig“ sei, werde den Kindern häufig zunächst ein Cochlea-Implantate (CI) eingesetzt, denn der Eingriff sei nicht so weitgehend wie beim Einsetzen eines ABI. Doch der Erfolg sei nicht immer garantiert. Behr spricht insofern vom „CI-Versuch“. Bei 60 Prozent seiner Patienten, sagte Behr, habe das zuvor eingesetzte CI nicht funktioniert. Wenn dieser Versuch aber gescheitert sei, seien die Eltern häufig niedergeschlagen und mutlos: „Mit meiner Arbeit und der Publikation unserer Erfolge möchte ich den Eltern helfen, neuen Mut zu schöpfen.“
Zum Hintergrund:
Warum Hören wichtig ist: Wir denken in Worten
„Sehen verbindet mit den Dingen, hören mit den Menschen“, sagt Prof. Dr. Robert Behr, ein Pionier in der Überwindung von Taubheit, in Anlehnung an die Schriftstellerin Helen Keller. Wer schlecht oder gar nicht hört, ist rasch isoliert. „Wenn man einem Menschen etwas zwei oder drei Mal sagen, oder gar schreien muss, damit er es besser versteht, dann zieht er sich zurück“, schildert der Chef der Neurochirurgie am Klinikum Fulda die Lebenswirklichkeit, denn der, der nichts versteht, gilt als abständig oder dumm. Im Flämischen ist „taub“ die Übersetzung des deutschen „dumm“ und „doof“, und im Deutschen liegen „taub“ und „tumb“ nahe beieinander. Die Folgen: „Fast alle tragen gerne eine Brille als modisches Accessoire, aber keiner gern ein Hörgerät“, sagt Behr. Wenn ältere Menschen schwerer hören, was zum Alterungsprozess gehört, fühlen sie sich isoliert. Wenn Menschen aber von Geburt an oder in jungen Jahren das Gehör verlieren, bleiben sie gegenüber den Hörenden wie in einer anderen Welt zurück. „Wie denkt man eigentlich ohne Sprache?“, fragt Behr, denn wir denken – kulturell geprägt – in Worten: „Wie entwickeln Kinder – ohne Worte – ihr Denken und ihre Denkstrukturen?“
Wer von Geburt an nicht hört, lernt nicht zu sprechen und lebt in einer Parallelwelt. Das hat der Neurochirurg in Dekaden beobachtet. „Wenn die Kinder dann aber erstmals hören oder wieder hören können, erleben sie einen Entwicklungsschub. Kinder, die zuvor beinahe autistisch wirkten, leben plötzlich auf. Sie leben nicht mehr zurückgezogen, sondern nehmen am ganzen und vollen Leben teil. Es ist jedes Mal ein Glück, eine solche Entwicklung miterleben zu dürfen“, schildert der Neurochirurg.
Wie wir hören
Im Normalfall hören wir, wenn die Schallwellen, aufgefangen von der Ohrmuschel, das Trommelfell in Schwingungen versetzen. Diese Wellen werden über die Gehörknöchelchen an die Hörschnecke weitergeleitet, wo sie durch Interferenz im Cortischen Organ, das in der Hörschnecke sitzt, zunächst die etwa 12.000 äußeren Haarzellen erregen. Das Cortische Organ ist praktisch Teil der Hörschnecke und läuft entlang deren Windungen. Es ist jener Ort, an dem die Schallwelle in ein elektrisches Signal umgewandelt wird. Diese 12.000 äußeren Haarzellen stimulieren die etwa 3000 inneren Haarzellen, die dann die etwa 30.000 Fasern des Hörnerven elektrisch erregen. Der Hörnerv leitet die Impulse an den Hörnervenkern im Hirnstamm weiter. Ist der Hörnerv geschädigt, etwa durch einen Tumor (NF-2), fehlerhaft oder nicht angelegt, ist ein Hören nicht möglich. Mit dem ABI werden die Schallwellen durch ein Mikrophon aufgenommen und in einem Sprachprozessor, der hinter dem Ohr getragen wird, in elektrische Impulse umgearbeitet. Diese werden über eine elektromagnetische Spule induktiv auf das unter der Haut gelegene Hörimplantat weitergeleitet und gelangen dann durch ein feines Kabel und eine spezielle Sonde an den Hörnervenkern.
Warum das Hören beeinträchtigt sein kann
Die Ursache des Nicht-Hörens oder Schwer-Hörens, sagt Behr, sind in den meisten Fällen Schall-Leitungsprobleme. Die können relativ einfacher Natur sein, etwa wenn wir Wasser im Ohr haben, oder wenn Ohrenschmalz den Gehörgang verstopft. Aufwändiger ist die Abhilfe, wenn die Gehörknöchelchen mit den Jahren versteift sind und als Folge dieser Otosklerose nicht mehr schwingen, wie sie es einst taten. Dann soll meist ein Hörgerät helfen, den Schall so weit zu verstärken, dass die Knochen ins Schwingen kommen, doch auch operative Verfahren können es ermöglichen, den Schall vom Trommelfell zum Innenohr zu leiten.
Schwerhörigkeit im Innenohr
Davon zu unterscheiden ist als zweiter Fall die Innenohrschwerhörigkeit. Im Inneren der Hörschnecke, der Cochlea (siehe Grafik weiter oben), befinden sich etwa 15.000 Haarzellen. Sie sind an einer Seite angewachsen und schwimmen mit der anderen frei in der Lymphflüssigkeit, mit der das Innere der Cochlea gefüllt ist. Trifft nun Schall von außen auf die Cochlea, beginnen die Haarzellen zu schwingen. Je stärker der mechanische Impuls von außen, desto stärker schwingen die Haarzellen. Dieses mechanische Signal wiederum wird in ein elektrisches umgesetzt und über den Hörnerv ins Stammhirn geleitet. Die Haarzellen im unteren Bereich der Cochlea nehmen die hellen Töne wahr. Nach oben hin nehmen die Haarzellen die tieferen Töne wahr. Man spricht von der Tonotopie der Hörschnecke. Jede der 15.000 Haarzellen nimmt eine bestimmte Frequenz wahr.
Zu viel und zu hoher Schalldruck von außen kann diese Haarzellen überbeanspruchen, und sie nehmen Schaden. Häufige Ursachen für Schäden an den Zellen sind Lärm, das Hören zu lauter Musik – zum Beispiel in der Disco, das Hören mit zu laut gestellten Kopfhörern oder ein Knalltrauma. Aber es gibt auch virale und bakterielle Infektionen, die die Haarzellen schädigen können, ebenso wie bestimmte Medikamente, die zu hoch dosiert wurden, deren Einnahme aber lebensnotwendig sein kann. Eine Hirnhautentzündung, sagt Behr schließlich, könne zu einer Verkalkung der Hörschnecke führen.
Die Schädigung des Hörnervs
Der dritte Typ von Schädigung liegt in einem Defekt in der Übertragung des elektrischen Nervensignals zwischen der Hörschnecke und dem Stammhirn. Im Stammhirn werden die elektrischen Signale verarbeitet, moduliert und zum Großhirn geleitet, wo überhaupt erst ein bewusster Höreindruck entsteht.
Ein häufiger Grund für eine Schädigung des Hörnervs zwischen Cochlea und Stammhirn ist die Erkrankung an einem gutartigen Tumor, der – nach seinem Beschreiber „Schwann“ benannt – Schwannom heißt. Der Tumor wächst langsam von den Schwannzellen ausgehend, die die Nervenfasern umhüllen. Der Tumor zerstört schließlich den Hörnerv und führt damit zu Taubheit. Diese Erkrankung, die Neurofibromatose Typ II, ist erblich und mithin angeboren. Die Ursache für die Läsion, die Verletzung, liegt auf dem Chromosom 22. In etwa 50 Prozent der Fälle bildet sich die Krankheit zudem durch Neumutationen. Sie trifft Frauen und Männer gleichermaßen und meist in jungen Jahren. Manche ertauben im Alter von 15 Jahren oder jünger, die meisten aber in ihren Zwanzigern, berichtet Behr. Die Inzidenz, also die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Erkrankung, beträgt 1 zu 35.000 bis 1 zu 40.000. Das heißt, dass im Durchschnitt ein Mensch von 35.000 bis 40.000 daran erkrankt. Die exakte Zahl der Betroffenen ist laut Behr schwer zu erheben, da die Erkrankung zum Teil lange unentdeckt bleibt und sich erst im Verlauf meist mit Hörstörungen äußert.
Wie die Professoren House und Hitzelberger die Taubheit zu überwinden begannen
1979 unternahmen der HNO-Arzt William House und der Neurochirurg William Hitzelberger in Los Angeles erste Versuche, mit Hilfe einer Kugelelektrode, die der Chirurg am Stammhirn am Kern des Hörnervs anbrachte, einen elektrischen Reiz im Milliamperebereich auszulösen, den die zuvor taube Patientin tatsächlich als akustischen Eindruck wahrnahm. Solch eine Elektrode wurde probeweise implantiert, und die Patientin hatte „irgendetwas gehört“, berichtet Behr. Dann aber habe eine Weile „Funkstille geherrscht“, bis das Experiment von 1979 in den 1980er Jahren den Anstoß gab, zunächst einen Defekt der Haarzellen in der Cochlea mit einer zu implantierenden elektrischen Leitung zu überbrücken.
Das Cochlea-Implantat
Die Schallwelle wird über ein Mikrofon – ähnlich wie beim konventionellen Hörgerät – in elektrische Signale umgewandelt und ein Implantat mit zwölf Elektroden auf der Innenseite der Cochlea eingesetzt. Hierbei machen sich die Entwickler des Implantats und die Otochirurgen, die die Elektrode einsetzen, die Tonotopie – die systematische, aufsteigende Empfindlichkeit der Cochlea für helle Töne in ihrem unteren Bereich und für tiefe Töne in ihrem oberen Bereich – zunutze. Die Elektrode wird so eingesetzt, dass die elektrischen Signale für die hellen Töne im unteren und jene für die tiefen Tönen im oberen Bereich der Cochlea abgegeben werden. Statt der 3000 inneren Haarzellen sind es aber nur zwölf – bei manchen Fabrikaten auch etwas mehr – Elektroden, die die Impulse setzen. Im „Fitting“ werden Frequenz, Amplitude, Pulsdauer und Stärke des Signals auf den einzelnen Patienten individuell eingestellt. Nicht immer kommen alle zwölf Elektroden zum Einsatz, um zu vermeiden, dass sich die Signale in der individuellen Wahrnehmung des Hörenden störend überlagern. „Das zeigt, mit wie wenig Stimuli unser Gehirn schon eine vollständige akustische Information erzeugt, aber nicht jedes Individuum leistet den Informationsprozess in gleicher Weise. Wer früher schon sprechen konnte, kann an diese Erfahrung anknüpfen“, sagt Behr.
Das Auditory Brainstam Implantat
Nach den Erfolgen mit den Cochlea-Implantaten lag der Versuch nahe, auch die Schädigung des Hörnervs zwischen der Cochlea und dem Stammhirn mit einem Implantat zu überbrücken. In den 1990er Jahren arbeiteten daran – neben anderen – Prof. Dr. Jan Helms und Prof. Joachim Müller (HNO) am Universitätsklinikum Würzburg. Die Technik mit den Elektroden, die elektrische Signale ins Nervensystem senden, um eine akustische Wahrnehmung zu erzeugen, war im Prinzip vorhanden. Sollte es also gelingen, die Elektroden nicht nur in der Hörschnecke, sondern als Auditory Brainstam Implantat auf den Hörnervenkern am Stammhirn aufzusetzen? Allerdings war das durchaus schwieriger als die Implantation in der Cochlea. Zum einen hatten die Schwannome, die in diesen Fällen typischerweise der Auslöser der Taubheit waren, den Hörnervenkern im Hirnstamm der hier zu operierenden Patienten vielfach aus seiner ursprünglichen Position verschoben. Zum anderen verteilt sich die Empfindsamkeit für bestimmte Frequenzen nicht mit jener Systematik auf die einzelnen Fasern des Hörnervs, wie sie in der Tonotopie der Cochlea anzutreffen ist. Es ist also eine spezielle Herausforderung, die 3,5 mal 5 Millimeter große Platte mit den zwölf Elektroden in der richtigen Position auf den – von Schwannomen be- und verdrängten – Hörnervenkern mit einer Oberfläche von 4 mal 5 Millimeter zu setzen.
Als Helms in Würzburg den Schritt von der Theorie in die Praxis ging, „da brauchten sie einen Neurochirurgen mit Erfahrung in der Operation von Schwannomen, und der war dann ich“, berichtet Behr, der damals in Würzburg war, über einen aus seiner damaligen persönlichen Sicht eher unspektakulären Vorgang, der aber einen Einschnitt in der Behandlung der Taubheit markiert und insofern eine Wegmarke in der Geschichte der Medizin gesetzt hat. Das war 1997.
Mit dem ABI zum „offenen Sprachverständnis“
„Damals“, erinnert sich Behr, „herrschte in der Wissenschaft die Meinung vor, dass mit dem ABI bei den Patienten kein offenes Sprachverständnis hinzukriegen sei, sondern dass die Patienten allenfalls Umgebungsgeräusche und akustische Warnsignale würden wahrnehmen und besser von den Lippen anderer ablesen können“. Unter dem offenen Sprachverständnis verstehen die Wissenschaftler die Fähigkeit eines Menschen, ein Gespräch verstehen und ihm folgen zu können, wenn die betreffende Person weder das Lippenbild lesen kann, noch den bisherigen Kontext des Gesprächs kennt. „Doch ich habe dann bei meinen Patienten bemerkt, dass sie eigentlich besser hören können als erwartet“, schildert Behr seine Beobachtung: „Aber das hat man mir nicht geglaubt. Dann kam Bob Shannon zu uns, der Chefaudiologe des House-Ear-Institute in Los Angeles. Das war Anfang der 2000er Jahre. Er hat unsere Patienten, die ich zuvor in Würzburg, Warschau und Köln operiert hatte, nachuntersucht und nachgewiesen, dass sie ein offenes Sprachverständnis haben. Das hat das Interesse an meiner Arbeit international befördert.“
Etwa zur gleichen Zeit, berichtet Behr, wurde bekannt, „dass in Italien Prof. Vittorio Colletti unsere Systeme zur Implantation bei taubgeborenen Kindern nutzt. Das war dann eine ganz andere Situation, wenn es bei taubgeborenen Kindern funktioniert und nicht nur bei Tumorpatienten, die nach dem Erlernen der Sprache ertaubt sind.“
Mehr als 1000 solcher Implantate seien weltweit schon eingesetzt worden, schätzt Behr. Auch das ABI hat – wie das Cochlea-Implantat – in seiner Außenkomponente, die am Ohr getragen wird, eine externe Stromversorgung und ein Mikrofon ähnlich wie ein Hörgerät, und es wird dem Patienten nach der Implantation im „Fitting“ individuell angepasst.
Diese Zeilen erreichten Prof. Dr. Robert Behr nach dem Kongress in Fulda:
„It is appropriate that the meeting was held in Fulda“
Robert, Congratulations on a highly successful Auditory Brainstem Implant meeting in Fulda. Over the 20 years of the MedEl ABI we have seen many significant improvements in patient outcomes, many due to your innovations in surgery. Given your importance in the improvement of the ABI over the last 20 years it is appropriate that the meeting was held in Fulda. I am honored and proud to be included in the invited speakers at the meeting. I was impressed at the international representation – surgical teams from India, Africa, South America, China – which shows the growth of the ABI around the world. I never thought that the ABI would gain such acceptance and that the results would be so impressive. The success of the ABI shows that we can safely and effectively restore functional hearing by electrically stimulating the brainstem directly. Many NF2 patients and children born without an auditory nerve owe you thanks and appreciation. Congratulations again on a successful and enjoyable Meeting.
Robert V. Shannon, PhD
Adjunct Professor of Otolaryngology
Caruso Department of Otolaryngology, Head and Neck Surgery
University of Southern California